Prolog
Erinnerungen.
Erinnerungen sind Teil eines jeden Menschen. Sie können gut oder schlecht sein, freudig oder grausam. Jeder trägt Erinnerungen mit sich, meist ein Leben lang. Manche wünscht man fort, und doch bleiben sie für immer im Gedächtnis, im Bewusstsein.
Erinnerungen bestehen aus angesammeltem Wissen. Aber dieses Wissen erscheint manch einem völlig unnütz. Es kann belasten, einengen.
Erinnerungen können einen Menschen prägen. Ereignisse, die einem in Erinnerung bleiben, können das ganze Leben bestimmen. Es gibt keinen Ausweg, kein Entkommen.
Erinnerungen dienen dazu, die Vergangenheit nicht zu verlieren. Sie wird gespeichert und ist jederzeit abrufbar. Es gibt Menschen, die gerade diese Vergangenheit, oder einen Teil davon, vergessen wollen, und doch geht es nicht.
Gerade die schlimmen, grausamen Erinnerungen bleiben für immer im Gedächtnis. Ereignisse stürzen Menschen in ein Trauma, das sie ein Leben lang begleitet. Unaufhaltsam. Unauslöschlich.
Erinnerungen können schmerzlich sein. Und dieser Schmerz ist manchmal begleitet von unfassbarem Leid.
Körperlicher Schmerz ist schlimm. Er kann heilen.
Seelischer Schmerz ist schlimmer. Er bleibt. Für immer.
Erinnerungen können ebenso schön sein. Erinnerungen an unbeschwerte Kindertage, Ausflüge, Erfolge oder einfach nur an warme, sonnige Tage, bereiten viel Freude. Sie bleiben gerne im Gedächtnis.
Erinnerungen können aber, so wie meine eigenen, auch von einer Ambivalenz geprägt sein. Sie liegen zwischen gut und schlecht, zwischen freudig und grausam.
Ich habe Dinge erlebt, die jeder andere gern vergessen würde. Schlimme Dinge, die mir fast den Verstand raubten. Und doch haben sie etwas Gutes hervorgebracht. Sie haben mir das größte Glück der Welt geschenkt. Und dafür bin ich sehr dankbar. Ich, Shane McCutcheon.
Kapitel 1
Ich weiß noch genau, was damals alles geschah. Jedes einzelne Detail ist mir in Erinnerung geblieben.
Es fing alles so schön an. Ich hätte wirklich glücklich werden können. Die Frau, die ich damals kennenlernte, hat mich verzaubert. Ich habe mich vom ersten Augenblick an in sie verliebt.
Der Grund, warum ich sie kennenlernte, war Alice, meine beste Freundin. Nur wegen ihr bin ich zu dieser Party gegangen. Hätte ich das nicht getan, wäre mir sicherlich einiges erspart geblieben, aber ich hätte auch einiges verpasst.
Ich erinnere mich an ihren Anruf und an das, was danach geschah.
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Es war drei Uhr nachmittags, als das Telefon klingelte. Ich nahm ab.
„Hey, Shane.“
„Alice. Hi.“
„Was machst du heute Abend?“
Als ob ich mir zu so früher Stunde darüber schon Gedanken gemacht hätte.
„Keine Ahnung. Warum?“
„Heute ist Radar-Party im Planet und Kit hat einen neuen DJ eingestellt. Ich dachte, du möchtest vielleicht auch kommen?“
„Al, ich weiß nicht. Ich bleibe heute lieber zu Hause.“
Doch so eine Ausrede konnte eine Alice Pieszecki natürlich nicht dulden.
„Komm schon, alle werden da sein, Bette und Tina, Jenny, Dana und ich. Das wird bestimmt lustig. Und außerdem muss diese DJane nach Kits Angaben ziemlich heiß sein. Vielleicht wäre sie ja was für dich. Also was ist, kommst du?“
Es war klar, dass sie sich nicht abwimmeln lassen würde. Nicht Alice. Sie konnte wirklich hartnäckig sein.
„Mal sehn, okay? Ich werde es mir überlegen.“
„Shane, da gibt es nichts zum überlegen. Du kommst, basta!“
Dann legte sie auf.
Ich seufzte und legte den Telefonhörer auf den Tisch. Doch gerade als ich ins Bad wollte, um zu duschen, klingelte es erneut.
Wütend nahm ich ab.
„Alice, ich sagte doch, dass ich noch nicht weiß, ob ich komme“, sagte ich genervt in den Hörer.
„Hi, Shane. Hier ist Bonny.“
Der Klang seiner Stimme lief mir wie ein Schauder über den Rücken.
„Shane, was ist los? Bist du da?“
„J-Ja“, sagte ich leise und zaghaft und klang nun eher ängstlich.
„Sie will dich sehen. Heute Nacht.“
„A-Aber da k-kann ich nicht.“
„Oh doch, und wie du kannst. Vergiss nicht, was passiert, wenn du es nicht tust. Also mach mir besser keine Probleme.“
Ich zitterte am ganzen Körper. Kleinlaut antwortete ich, „O-Okay.“
„Gut. Braves Mädchen. Dann sehe ich dich heute Nacht um halb elf an der bekannten Stelle.“
Dann ertönte das Freizeichen, doch ich stand immer noch wie vom Donner gerührt mit dem Telefon in der Hand da.
Kapitel 2
„Shane! Du bist gekommen“, rief mir Alice schon von Weitem zu.
Ich ging auf den Tisch zu und begrüßte die anderen Frauen, bevor ich mich auf den Stuhl zwischen Bette und Alice setzte.
„Ich habe aber nicht lange Zeit.“
„Warum denn nicht?“, fragte Alice neugierig.
„Ich muss noch… arbeiten.“ Wieder wurde es mir ganz schlecht, als ich an das dachte, was mich später erwarten würde.
„Arbeiten?“ Bette sah mich skeptisch von der Seite her an. Ich wusste genau, was sie in diesem Moment dachte.
„Ja“, sagte ich knapp.
„Da kommt sie“, sagte Alice plötzlich. „Wow… ist sie nicht scharf?“
Ich drehte mich um, um zu sehen, was Alice sah und mir klappte die Kinnlade herunter. Sie war perfekt, einfach nur perfekt. Ich glaube, ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen. Diese braunen lockigen Haare und dazu der gut geformte Körper. Sie sah aus wie eine Göttin.
„Na, was sagst du nun, Shane?“
„Ich… ähm.“ Ich räusperte mich. „Sie ist… hübsch.“
„Hübsch?“, fragten alle am Tisch entrüstet, so als ob ich gerade ein wohlgehütetes Geheimnis offenbart hätte.
„Ja… hübsch. Was ist falsch daran?“
„Nichts. Es sah nur eben anders aus“, schmunzelte Bette.
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Ich bin also tatsächlich zu dieser Party gegangen. Gut, Alice hat mich mehr oder weniger dazu genötigt, aber spätestens in dem Moment, in dem ich Kits neue DJane erblickte, habe ich es nicht mehr bereut.
Die Erinnerungen an diesen Tag sind immer noch sehr lebendig. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens.
Diese Frau hat mich einfach fasziniert und irgendwie war es klar, dass ich die Finger nicht von ihr lassen konnte…
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Nach einer Weile ging ich an die Bar und bestellte mir ein Bier. Ich griff in meine Tasche um zu bezahlen und blickte dabei auf die schöne DJane, als ich mich plötzlich sagen hörte, „Noch eines, bitte.“
Auf einmal standen zwei Flaschen Bier vor mir. Was hatte ich mir dabei nur gedacht?
Wie in Trance ging ich auf das DJ-Pult zu und wusste gar nicht, warum. Es war, als ob die schöne Frau mich magisch anzog, ich konnte nichts dagegen tun.
Ich sah kurz hinüber zu unserem Tisch. Die Mädels schauten mich an und kicherten, aber das störte mich in diesem Moment nicht.
Ich kam näher an das Pult und plötzlich sah sie zu mir herauf. Diese Augen. So wunderschön. In einem Braun, das perfekt mit ihren Haaren harmonierte.
„Hi“, sagte ich endlich.
Sie lächelte. „Hey.“
„Ich dachte, du hast vielleicht Durst?“ Erwartungsvoll hielt ich ihr das Bier hin.
Wieder lächelte sie. Oh Gott, dieses Lächeln. Diese Frau machte mich verrückt. Ich glaube, ich hatte mich schon in sie verliebt.
„Danke, das ist nett. Ich habe tatsächlich großen Durst.“
Sie nahm mir das Bier ab und trank einen großen Schluck.
Dann streckte sie ihre Hand aus und sagte, „Ich bin übrigens Carmen. Carmen de la Pica Morales.“
Ich lächelte und nahm ihre Hand. „Shane McCutcheon.“
„Danke für das Bier.“
Wir sahen uns an und ich spürte die Spannung zwischen uns.
„Gut, dann… dann werd ich mal zurück zu meinem Tisch gehen.“
„Ja… vielleicht sieht man sich ja noch.“
Wir verabschiedeten uns und ich ging wieder zu den anderen.
Kapitel 3
„Shane, Shane, Shane“, lachte Alice, als ich zurück an den Tisch kam. „Du findest sie also nur hübsch?“
„Ich habe ihr ein Bier gebracht, das heißt gar nichts.“
Alice wusste genau, dass es anders war. Und die anderen am Tisch offensichtlich auch. Ich sagte nichts mehr dazu.
Ich sah auf die Uhr. Ich hatte noch eine gute Stunde, bevor ich aufbrechen musste und allein der Gedanke daran ließ mich erzittern. Ich verstand einfach nicht, wie es dazu kommen konnte.
Alice holte mich aus meinen Gedanken.
„Shane, dein Mädchen kommt.“
„Mein wa-“.
„Hi Shane.“
Ich drehte mich um. Da war Carmen.
„Hey. Was machst du hier? Ich dachte, du bist hier, um Musik aufzulegen?“
„Aber nicht acht Stunden am Stück. Ich mache gerade Pause, mein Kumpel Wayne macht für mich weiter.“
Ich lächelte. Dann beugte sie sich zu mir herunter und flüsterte mir ins Ohr, „Lass uns woanders hingehen“, und sah mich lustvoll an.
Das ließ ich mir natürlich nicht zweimal sagen. Ich stand auf.
„Leute, ich bin mal weg.“
Die anderen, die die Szene natürlich aufmerksam verfolgt hatten, warfen mir vielsagende Blicke zu.
„Na klar Shane, geh schon“, sagte Alice und kicherte.
Ich nahm Carmen an der Hand und führte sie hinaus.
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Meine Freunde dachten damals natürlich, dass es so wie immer sein wird. Ich schlafe mit Carmen, verbringe die Nacht mit ihr und mache mich dann aus dem Staub.
Aber dieses Mal war es anders. Carmen war anders als alle anderen Frauen, die mir bisher begegnet waren. Sie hat eine ungeheure Faszination auf mich ausgeübt.
An dem Abend habe ich mich in sie verliebt. Und ich liebe sie immer noch. Und das, obwohl sie so weit weg ist. Ich weiß nicht einmal, wo genau sie ist. Doch was ich weiß, ist, dass die Zeit, die ich mit ihr verbracht habe, einfach wundervoll war.
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Wir stiegen in meinen Jeep und ich fuhr aus der Stadt in die Nähe eines etwas abgelegenen Waldstücks.
Dort angekommen, hielten wir es nicht mehr länger aus und fielen übereinander her.
Sie zog mich auf die hintere Sitzbank und fing an, mich zu küssen und mich auszuziehen. Ich tat dasselbe. Ich konnte ihr einfach nicht widerstehen. Als wir beide nackt waren, streichelte sie mir zärtlich über meinen ganzen Körper. Noch nie bin ich von einer Frau so berührt worden. Als sie mit ihren Fingern in mich eindrang, konnte ich deutlich die Elektrizität spüren, die Spannung, die sich zwischen uns aufgebaut hat.
Als ich zu meinem Höhepunkt kam, schrie ich meine Freude lautstark heraus. Ich war froh, dass mich niemand hören konnte. Niemand außer Carmen.
Was war das nur für eine Frau? Nie zuvor hatte ich jemanden so an mich heran gelassen. Da war eine gewisse Vertrautheit zwischen uns, eine Verbindung, die meinerseits noch nie zu einem Menschen so stark war wie zu Carmen.
Ich lag ich in ihren Armen und fühlte mich so sicher. So geborgen. Ich fragte mich, warum.
„Erzähl mir etwas über dich“, sagte sie plötzlich.
„Über mich gibt es nicht viel zu erzählen. Meine Eltern kenne ich nicht, ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen. Ich war außerdem in verschiedenen Pflegefamilien, doch irgendwann bin ich ausgerissen, um mein eigenes Leben zu leben.“
„Wie sah dein Leben dann aus?“
„Ich bin nicht stolz darauf, was passiert ist. Ich wollte das nicht, und doch habe ich zu der Zeit einfach keine andere Möglichkeit gesehen.“
Sie schmiegte sich fester an mich und erneut überkam mich diese Vertrautheit zwischen uns. Ich fragte mich, warum ich ihr das alles erzähle, wo ich es sonst immer vermieden habe, jemandem nur das kleinste Detail aus meinem Leben zu verraten. In diesem Moment fiel es mir so leicht.
„Ich war anschaffen. Auf dem Santa Monica Boulevard.“
Kapitel 4
Ich frage mich noch heute, warum ich Carmen von der ersten Minute an so vertraut habe. Das war sonst so überhaupt nicht meine Art. Bei jedem anderen bin ich in mein kleines Schneckenhaus gekrochen und bin jeglichen Fragen über mich und mein Leben ausgewichen.
Warum?
Nun ja, ich denke, weil ich einfach keine guten Erfahrungen mit Offenheit gemacht habe. Ich hatte nie eine wirkliche Bezugsperson. Eltern gab es in meinem Leben nicht, das Personal im Waisenhaus wechselte ständig und in all meinen Pflegefamilien gab es eigene Kinder, die natürlich in gewisser Weise bevorzugt wurden. Ich war den Pflegeeltern deswegen nicht böse, konnte es sogar verstehen.
Ich habe immer weniger über mich selbst geredet und kam damit auch gut zurecht. In der Nacht, die ich mit Carmen verbrachte, habe ich zum ersten Mal gemerkt, wie gut es tut, wenn man jemanden hat, mit dem man reden kann.
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„Ich war anschaffen. Auf dem Santa Monica Boulevard.“
Carmen sah mich nur an und sagte nichts. Aber die Art und Weise, wie sie mich ansah, gab mir das Gefühl von Verständnis und Geborgenheit.
Von ganz alleine fuhr ich fort. „Es war eine harte Zeit. Aber dann habe ich Alice, Bette und die anderen kennen gelernt. Sie haben mich wieder auf die Beine gebracht und ich habe eine Lehre gemacht.“
„Welchen Beruf hast du gelernt?“
„Hair-Stylistin.“
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Auch an die Zeit bevor ich die anderen Mädels kennengelernt habe, kann ich mich noch gut erinnern. Es war wirklich eine harte Zeit und ich bin ihnen sehr dankbar, dass sie mich da rausgeholt haben. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch überlebt hätte. Die ganzen Drogen haben mich nach und nach kaputt gemacht. Ständig war ich in irgendwelche Schlägereien verwickelt, wie auch an dem Tag, an dem ich Bette zum ersten Mal sah.
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„Lasst mich in Ruhe“, schrie ich die Männer an, die mich umzingelt und am Kragen gepackt hatten.
„Nicht bevor du uns den verdammten Stoff gibst.“
„Ich hab euch doch schon gesagt, dass ich das Zeug nicht habe.“ Im Übrigen sagte ich die Wahrheit, ich hatte das Koks wirklich nicht, mein Kumpel Clive hatte es.
„Verdammt nochmal, gib es endlich her.“
„Ich kann es nur noch einmal sagen: ich hab nichts!“
Anscheinend hatten es die Typen richtig satt, denn die Faust, die ich anschließend in meinem Gesicht spürte, ließ mich zu Boden sinken. Meine Nase tat höllisch weh, ich spürte schon, wie mein Auge anfing, anzuschwellen und meine Lippe war aufgeplatzt. Noch einen festen Tritt in die Rippen und ich schrie vor Schmerzen.
Die Männer machten sich aus dem Staub. Ich lag da und konnte mich kaum bewegen. Das war in Venice und niemand scherte sich um mich. Außer… eine Frau, die auf mich zugerannt kam und sich zu mir herunter beugte.
„Was ist passiert? Was haben die Typen dir angetan?“
Kapitel 5
Ja, das war also mein erstes Treffen mit Bette. Ich frage mich heute noch, warum sie mir damals geholfen hat und mich buchstäblich von der Straße aufgelesen hat. Sie als gestresste Business-Frau.
Wie auch immer, hätte ich Bette nicht gehabt, wäre ich wahrscheinlich drauf gegangen.
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„Was ist passiert? Was haben die Typen dir angetan?“
Ich hatte Schmerzen im ganzen Körper und atmete schwer. „Mi-Mir geht`s gut, da-danke.“
„Ja, das sehe ich“, sagte sie sarkastisch und wischte das Blut, das aus meiner Nase floss, mit einem Taschentuch ab. „Du musst ins Krankenhaus. Kannst du aufstehen oder soll ich einen Krankenwagen rufen?“
„Wi-Wirklich, ich komm schon zurecht“, antwortete ich genervt und versuchte, aufzustehen, doch die Schmerzen wurden immer schlimmer, vor allem die im Rippenbereich. Bette half mir und geleitete mich zu einer nahe gelegenen Bank.
Ich verzog das Gesicht vor Schmerzen.
„Bitte, lass mich dich ins Krankenhaus fahren, lass mich dir helfen. Du brauchst ärztliche Hilfe“, sagte Bette und es klang fast wie ein Flehen.
„Das geht nicht.“
„Warum sollte das nicht gehen?“
Ich zögerte kurz. „Ich bin nicht krankenversichert.“
Sie seufzte. „Das kriegen wir schon hin, okay? Aber du musst dir wirklich helfen lassen und das ist erstmal das wichtigste.“
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Nach langem Hin und Her habe ich mich damals von Bette überzeugen lassen. Sie hat mich ins Krankenhaus gefahren, wo ich dann auch gleich zwei Tage bleiben musste. Meine Nase und zwei Rippen waren gebrochen.
Was Bette damals für mich getan hat, werde ich ihr nie vergessen. Nach dem Krankenhausaufenthalt hat sie mich bei sich aufgenommen und mir ihre Freunde vorgestellt. Alice, Dana, ihre Freundin Tina und ihre Schwester Kit.
Nun aber zurück zu Carmen und der Nacht, in der ich sie kennenlernte. Diese Nacht war etwas ganz Besonderes, und das, obwohl sie so kurz war. Nachdem wir lange über uns geredet hatten, fiel mir plötzlich etwas ein.
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„Verdammt.“
„Was ist denn los?“, fragte Carmen und schmiegte sich an mich.
„Wie spät ist es?“
Sie suchte ihre Armbanduhr und fand sie schließlich auf dem Boden des Wagens in einem Bündel von Klamotten. „Kurz vor halb elf.“
„Shit. Carmen, es tut mir Leid, ich muss los. Es ist dringend.“
„Oh, okay. Kein Problem.“
Ich war ihr sehr dankbar, dass sie nicht gefragt hatte, wo ich denn so dringend hin müsse.
„Wie wärs, wenn wir uns morgen treffen? Zum Beispiel zum Essen?“ Irgendwie musste ich die Situation wieder gut machen.
„Gerne. Wo?“, fragte sie, während wir beide unsere Klamotten zusammen suchten und versuchten, uns auf dem engen Rücksitz anzuziehen.
„In Chinatown gibt es so ein kleines Restaurant, das Charm Thai Cuisine. Das Essen ist lecker und nicht so teuer.“
„Das klingt gut. Dann treffen wir uns dort. Morgen Abend um… sieben? Soll ich einen Tisch bestellen?“
„Ja, das wäre gut.“ Ich lächelte sie an. „ Ich fahre dich noch zum Planet zurück.“
Kapitel 6
„Dann sehen wir uns morgen zum Essen?“, fragte Carmen, als sie die Autotür öffnete, um auszusteigen.
Ich nickte und sah ihr dabei tief in die Augen.
Sie beugte sich zu mir herüber und wir küssten uns leidenschaftlich. Dann steig sie aus dem Auto und sagte, „Bis morgen, Shane.“
„Bis morgen. Ich freue mich.“
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Ich freute mich wirklich. Dieser Kuss… es war Liebe. Das war mir damals klar, und es ist mir auch heute noch klar. Carmen war die erste Frau, die dieses besondere, unbeschreibliche Gefühl in mir ausgelöst hat.
Als sie mich zum Abschied noch einmal angesehen hat, da spürte ich, dass ich mich unsterblich in sie verliebt hatte. Wenn ich damals gewusst hätte, dass dies gleichzeitig das letzte Mal sein würde, dass sie mich so ansieht, dann hätte ich sie gar nicht gehen lassen.
Doch zu diesem Zeitpunkt wusste ich das natürlich noch nicht. Zu diesem Zeitpunkt war ich mit etwas anderem beschäftigt.
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Ich fuhr schnell. Es war bereits nach halb 11 und ich musste mich beeilen. Dann klingelte plötzlich mein Handy. Ich ahnte, wer es war.
„Ja?“
„Shane.“
„Bonny, ich bin auf dem Weg. Ich bin in fünf Minuten da.“
„Das will ich dir auch geraten haben. Sie wartet schon.“
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Ich drückte auf die Klingel und die Tür wurde automatisch geöffnet. Ich ging hinein und stand auf dem dunklen Flur.
„Hallo Shane“, ertönte seine furchterregende Stimme aus dem oberen Stockwerk. Ich hatte fast Angst vor ihm.
Ich trat ein paar Schritte vor.
„Gibt es denn einen Grund, dass wir so lange auf dich warten mussten?“
Ich zögerte. „Nein. Ich war nur spät dran.“
„Lüg mich nicht an!“ Plötzlich war seine Stimme so nah, als ob er nicht weit von mir entfernt war. Ich konnte seine Schritte vor mir hören.
Dann packte er mich wie aus dem Nichts am Arm und führte mich zu ihr.
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Schon als er mich damals gefragt hat, ob es einen Grund für meine Verspätung gab, wusste ich, dass er alles weiß. Er hatte seine Spione, die mein ganzes Leben dokumentierten. Wahrscheinlich haben sie Carmen und mich sogar beim Sex gefilmt. Ich hätte es eigentlich besser wissen müssen.
Mir war bewusst, dass er Bescheid weiß. Aber ich durfte mir nichts anmerken lassen. Ich wusste, dass er mich früher oder später darauf ansprechen würde, und dann musste ich mir eine gute Erklärung aus den Fingern saugen.
Kapitel 7
Ich stand in dem Raum, der in ein schummriges Licht getaucht war. Vor dem Bett, in dem sie lag. Bekleidet mit einem dunkelroten Negligé.
Sie sah mich eindringlich an.
„Shane, warum hast du mich denn so lange warten lassen?“
Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.
„Sag schon, du Schlange, sag es ihr“, mischte sich Bonny ein und schubste mich leicht.
„Na na, Bonny, nicht so grob. Schließlich brauche ich die Schlange, wie du sie nennst, noch.“
Dann wendete sie sich an mich. „Hast du etwa jemanden kennengelernt? Eine Frau?“
Wieder konnte ich sie nicht ansehen. Konnte nicht lügen. Ich war eine schlechte Lügnerin.
„Ja, das hat sie, Madam. Ihr Name ist Carmen.“
„Ich will es von Shane hören, Bonny.“
Ich sagte nichts.
„Nun, Shane? Ich höre.“
Bonny schlug mir mit etwas Hartem in den Rücken. Ich schrie leicht auf und sah, dass es sich bei dem harten Gegenstand um eine Pistole handelte. Meine Angst wurde größer, doch ich konnte mich jetzt nicht geschlagen geben. Das schuldete ich Carmen.
„Mach deinen Mund auf“, schrie mir Bonny ins Ohr.
Ich zögerte noch kurz, doch schließlich fing ich an zu reden.
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Vielleicht war es damals mein größter Fehler, dass ich angefangen habe, von Carmen zu erzählen. Doch was hätte ich tun sollen? Sie wussten es ohnehin, ich hatte keine Chance.
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„So so… Die unantastbare Shane hat sich also in eine Frau verguckt? Wie konnte das nur passieren?“
Ich schwieg.
„Sag mir Shane, wie? Bin ich dir nicht gut genug?“
„Was erwartet ihr von mir? Ihr erpresst mich, behandelt mich fast wie eine Gefangene, wie einen Untertanen. Soll ich mir das ewig gefallen lassen? Nein, nicht mit mir. Ich werde jetzt gehen.“
Ich drehte mich um und wollte den Raum verlassen, als ich plötzlich das Klickgeräusch hörte. Sofort blieb ich stehen.
„Daraus wird wohl nichts.“
Ich spürte den Revolver im Nacken.
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Nie werde ich diesen Moment vergessen, er ist in meiner Erinnerung tief verankert. Noch heute kann ich jedes Detail abrufen. Noch heute habe ich alles genau vor Augen.
Ich dachte damals wirklich, er würde abdrücken. Ich habe mich im Grab gesehen, mit einem Loch im Hinterkopf. Doch so weit kam es nicht.
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„Lass das, Bonny.“
„Aber Madam, sie verweigert ihre Arbeit und will gehen. Wir müssen sie zur Vernunft bringen.“
Er senkte die Waffe und ich atmete auf.
„Sie wird selbst zur Vernunft kommen. Lass ihr etwas Zeit. Shane? Ich will, dass du morgen Abend um acht hierher kommst, hast du mich verstanden?“
Ich schwieg.
„Hast du mich verstanden Shane?“
„Ja, Cherie.“
„Gut, Bonny wird dich hinaus begleiten.“
Kapitel 8
Cherie. Ich frage mich heute noch, warum ich mich damals auf sie eingelassen habe. Warum ich mir das angetan habe.
Ich war begeistert von ihr. Ich habe sie als meine Klientin kennen gelernt, ich habe ihre Haare frisiert, bei ihr zu Hause. Dann ist sie in ihrer Kabine regelrecht über mich hergefallen, und ich konnte ihr nicht widerstehen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie geliebt habe. Jetzt, fast acht Jahre später, würde ich sagen: nein. Es war mehr eine Schwärmerei. Sie hat mir das Gefühl von Kraft gegeben. Sie war eine Frau mit so viel Erfahrung.
Als Cheries Mann alles über unsere kleine Affäre herausgefunden hat, hat dieser mir gedroht, mich umzubringen, sollte ich noch einmal in die Nähe seiner Frau oder Tochter Clea kommen. Clea sollte ich einst auf die Sprünge helfen, damit sie sich ihrer Sexualität klar wird.
Ich habe seine Drohung damals ernst genommen, doch Cherie hat die Sache auf ihre Weise erledigt.
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Eines Tages kam Cherie in meine Wohnung. Meine Mitbewohnerinnen waren nicht da. Sie kam ohne Vorwarnung und mit einer Flasche Champagner in der Hand. Ich stand in der Tür und starrte sie an.
„Willst du mich denn nicht hereinbitten?“
„Cherie… .“
Sie ergriff selbst die Initiative und betrat die Wohnung.
„Cherie, was machst du hier?“
„Ich wollte dich besuchen.“ Sie setzte sich auf die Couch und sah sich um. Ihr Blick sagte mir, dass sie so wohl niemals wohnen könnte. Ich machte ihr deswegen keinen Vorwurf. Sie war eben Besseres gewohnt.
„Cherie, du darfst nicht hier sein. Was ist, wenn Steve-“.
„Ach, Steve“, lachte sie zynisch, „um den brauchst du dir keine Gedanken mehr zu machen.“
Ein ungutes Gefühl überkam mich.
„Warum?“, fragte ich vorsichtig.
„Ich habe jemanden engagiert, der sich um ihn gekümmert hat.“
Ich schluckte.
„Wie meinst du das, gekümmert?“
„Shane, wir sind frei. Nun können wir zusammen sein, ohne dass uns irgendjemand in die Quere kommt. Darauf müssen wir trinken“
Ich sah sie an.
„Freust du dich denn nicht?“, fragte sie, als sie die Flasche mit einem lauten Knall öffnete. Anscheinend hatte sie schon Alkohol intus.
„Was hast du mit Steve gemacht, Cherie?“
„Ich habe ihn umbringen lassen.“
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Ich weiß noch, wie ich damals vor ihr stand und sie dies sagte, als wäre es unwichtig und nicht außergewöhnlich. Ich stand da und starrte sie an. Ich fragte mich, warum sie das getan hatte und ich konnte keine richtige Erklärung dafür finden. Hat sie ihn so gehasst? Hat er sie vernachlässigt? Oder… hat sie mich etwa so geliebt?
Kapitel 9
Ab diesem Zeitpunkt, in dem Cherie mir erzählte, dass sie einen Killer für ihren Mann engagiert hatte, war ich Mitwisser. Ich wurde mit in die Sache hinein gezogen und konnte mich nicht dagegen wehren.
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„Du hast was?“, fragte ich entrüstet. Ich konnte das einfach nicht glauben.
„Was ist schon dabei? Niemand wird etwas erfahren. Glaub mir, es ist besser so. Jetzt kann ich mein eigenes Leben leben.“
„Hast du dabei auch nur eine Sekunde an Clea gedacht?“
Ich sah einen Funken von schlechtem Gewissen über ihr Gesicht huschen, doch sie fing sich schnell wieder. „Sie ist momentan in Paris. Ich muss es ihr noch sagen.“
„Und was genau willst du ihr sagen?“ Ich fing an zu schreien.
„Was wohl… dass es ein Unfall war.“
Ich lachte sarkastisch und fuhr mir mit der Hand durch die Haare. Ich hoffe, das ist alles nur ein böser Traum.
„Cherie, bitte verlass meine Wohnung.“
„Was?“
„Ich sagte, verlass meine Wohnung.“
„Aber Shane, ich-“.
„Jetzt! Ich will dich hier nicht mehr sehen. Ich will dich überhaupt nicht mehr sehen. Eigentlich müsste ich dich anzeigen, verdammt.“
Sie schien verzweifelt.
„Shane, du wirst doch nicht-“.
„Geh jetzt.“
Ich öffnete die Tür und schob sie buchstäblich hinaus. Als ich die Tür schließen wollte, hielt sie mich zurück und sah mich mit böse funkelnden Augen an.
„Das wirst du bereuen.“
Dann ging sie.
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In diesem Moment dachte ich noch nicht, dass sie mir irgendetwas anhaben könnte, schließlich war ich es, die sie ins Gefängnis hätte bringen können. Doch ich habe mich gründlich getäuscht.
Jetzt weiß ich, dass sie ein Biest ist. Ein Biest, das sogar über Leichen geht.
Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich damals wieder in die Wohnung gegangen bin. Ich setzte mich auf die Couch und starrte ins Leere. Was sollte ich tun? Sollte ich sie anzeigen? Sollte ich das Verbrechen vertuschen und sie davonkommen lassen? Ich wusste es einfach nicht.
Ich glaube, ich war tagelang nicht ansprechbar, ich habe mich zurückgezogen. Doch dann erreichte mich plötzlich ein Anruf.
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Mein Handy klingelte, auf dem Display erschien der Name „Cherie Jaffe“. Ich überlegte kurz, ob ich annehmen sollte, entschied mich dann aber dafür, da ich mir anhören wollte, was sie zu sagen hat.
„Cherie. Was willst du?“
„Shane. Ich möchte mich mit dir treffen.“
„Und warum denkst du, dass ich darauf eingehen sollte?“
„Weil es einiges zu klären gibt, Shane. Morgen Abend um sieben. Ich hoffe, du kommst.“
Kapitel 10
Wenn ich gewusst hätte, was mich bei Cherie erwartet, wäre ich erstens nicht hingegangen und hätte mich zweitens wahrscheinlich sofort aus dem Staub gemacht.
Ich hätte nie gedacht, dass sie so weit geht. An diesem Abend habe ich meine Freiheit verloren.
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„Shane, ich habe dich schon erwartet. Komm rein.“
Schweigend folgte ich ihr ins Wohnzimmer, auf dessen großem Sofa noch jemand saß, den ich nicht kannte.
Cherie bedeutete mir, mich zu setzen und bot mir etwas zu Trinken an, was ich dankend ablehnte. Der Mann, dem ich nun gegenüber saß, sah mich böse an.
„Shane, darf ich vorstellen, das ist Bonny, mein neuer Bodyguard. Bonny, das ist Shane, meine Freundin.“
„Ich bin nicht deine Freundin“, sagte ich zähneknirschend, doch Cherie lachte nur.
„Ach Shane… jetzt, wo Steve weg ist, kannst du dich auch in der Öffentlichkeit zu mir bekennen. Die arme Ehefrau, die ihren Mann durch einen tragischen Unfall verloren hat, sucht nun Trost.“
Ich traute meinen Ohren kaum.
„Du bist doch krank“, sagte ich und stand auf, um zu gehen.
„Nicht so schnell.“ Ich blieb stehen. „Wir haben noch etwas zu bereden. Setz dich wieder.“
Ich tat, was mir gesagt wurde und versuchte nun, ruhig mit ihr zu reden.
„Cherie, ich kann das, was du getan hast, nicht dulden.“ Ich sah zu dem Mann. Ob er es weiß? „Ich kann es einfach nicht, verstehst du? Ich werde dich nicht anzeigen, aber ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“
„Oh doch, das wirst du.“
Ich sah sie fragend an.
„Ja, Shane, du hast mich richtig verstanden. Wir beide werden ein glänzendes Paar abgeben.“
„Und warum denkst du, ich würde mit dir zusammen sein wollen?“
„Weil es dir anderenfalls so ergehen wird wie Steve.“
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In diesem Moment gefror mir das Blut in den Adern. Ich dachte zuerst, dass sie so etwas doch nicht ernst meinen könne. Aber sie meinte es ernst.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst. Angst davor, was mich erwartet. Angst vor dem Tod.
Mir wurde bewusst, dass ich massiv erpresst wurde, und das, obwohl ich dachte, ich hätte die Zügel in der Hand auf Grund meines Wissens um die wahre Todesursache von Steve Jaffe. Doch da habe ich mich getäuscht.
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„Cherie, dir ist doch klar, dass ich dich ins Gefängnis bringen könnte, oder? Was ist, wenn ich dich gleich morgen anzeigen würde?“
Innerhalb Sekunden zog der Mann gegenüber eine Pistole und zielte genau auf meine Stirn. „Das wirst du nicht“, sagte er bestimmt.
Ich schluckte.
„Steve Jaffe war kein Problem für mich. Und du“. Er lief um den Couchtisch herum und stand nun direkt vor mir. Ich konnte die Waffe auf meiner Stirn spüren. „Du bist ein noch kleineres Problem.“
Kapitel 11
Ich bin in diese Sache gegen meinen Willen hinein gezogen und dann mit diesem Wissen erpresst worden. Entweder ich schwieg und tat alles, was Cherie von mir verlangte, also vorwiegend Sex, oder Bonny würde mich kaltblütig umbringen.
Das Schlimme daran war, dass ich wusste, er würde seine Drohung wahr machen. Und wenn ich zur Polizei gerannt wäre, hätte er das mitbekommen. Er hätte mich erwischt, da war ich mir sicher. Er hat immer alles von mir gewusst, überall gab es Spione, die meinen Alltag verfolgten.
Ich hatte kein Leben mehr. Ich war gefangen.
Die Nacht mit Carmen wurde mir zum Verhängnis. Wie immer, wussten sie alles. Als mich Bonny zur Tür bringen sollte, nachdem ich mich den Forderungen Cheries verweigert habe, hat er mir das deutlich zu verstehen gegeben.
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Kurz bevor wir zur Tür kamen, packte mich Bonny und flüsterte, „Wenn du dich morgen mit diesem Mädchen triffst, wirst du das bereuen, hast du verstanden?“
Ich schaute in seine Richtung. Sehen konnte ich ihn nicht, dafür war es zu dunkel, aber allein die Vorstellung seines Gesichtes löste in mir Ekel aus.
„Hast du verstanden?“, zischte er noch einmal.
„Ja.“
„Das will ich dir auch geraten haben.“
Dann ließ er mich gehen.
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Auch da wusste ich, dass ich es mir nicht erlauben konnte, mich mit Carmen zu treffen. Es war mir zwar egal, wenn mir etwas passiert wäre, aber ich konnte einfach das Risiko nicht eingehen, dass Bonny Carmen oder meinen Freundinnen etwas antut. Ich musste mir etwas ausdenken und nach langem Überlegen habe ich mich schließlich dazu entschlossen, ihr in dem Restaurant einen Brief zu hinterlassen.
Ich habe alles genau geplant. Carmen hatte sich bereit erklärt, einen Tisch zu bestellen, also musste sie dort anrufen und ihren Namen angeben. Und abends musste sie ebenfalls ihren Namen sagen, damit sie die Restaurantangestellten zum reservierten Tisch führen konnten. Ich wollte also schon am Nachmittag meinen Brief dort abgeben, den man ihr dann am Abend zustecken sollte.
Ich schrieb also am nächsten Tag den Brief und offenbarte ihr darin alles, mein ganzes Schicksal, und warum ich nicht bei ihr sein konnte, zumindest nicht an diesem Abend. Es war wirklich perfekt geplant. Doch als ich auf dem Weg zum „Charm Thai Cuisine“ war, passierte es… ich hätte es mir eigentlich denken können.
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Mein Handy klingelte. Unbekannte Rufnummer.
„Ja?“
„Shane.“
Ich blieb mitten auf dem Gehweg stehen.
„Bonny, was ist?“ Ich versuchte ganz normal zu klingen.
„Shane, das willst du doch nicht wirklich tun, oder?“
„W-Was tun?“
„Du weißt genau, was ich meine.“
„Nein, weiß ich nicht.“
Mit diesen Worten legte ich auf und wollte weiter gehen, als plötzlich die Tür eines neben mir geparkten Wagens mit schwarzen Scheiben aufging und ich hineingezogen wurde.
„Ich habe dir gesagt, du sollst keine Dummheiten machen.“
„Bonny, ich-“.
Weiter kam ich nicht. Ich spürte etwas Schweres an meinem Hinterkopf und plötzlich wurde alles schwarz.
Kapitel 12
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich bewusstlos war. Ich weiß nur noch, dass ich in Cheries Schlafzimmer aufgewacht bin.
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Ich öffnete langsam die Augen. Ich lag in einem Bett. Mein Kopf schmerzte und ich fühlte mich schrecklich.
„Sieh an, wer wach ist.“
Ich drehte meinen pochenden Kopf zur Seite und sah direkt in die Augen von Bonny.
„Was willst du von mir?“
Ich fasste mir an den Hinterkopf und spürte Blut an meiner Hand, teils noch feucht, teils schon getrocknet.
„Was ich von dir will?“ Er kam ganz nah an mich heran. „Ich will, dass du machst, was ich dir sage.“
Ich hatte es satt. Ich wollte da raus. Sofort. Nur noch weg von diesem Ort. Ohne an die Konsequenzen zu denken, sprang ich auf und lief zur Tür. Doch Bonny war mir sofort auf den Versen. Er hielt die Tür zu.
„Wo willst du denn hin?“, fragte er sarkastisch.
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Bonny war zu groß und zu stark für mich. Ich wusste, dass ich ihn nicht überwältigen konnte.
Wenn ich jetzt an diesen Tag zurückdenke, war es wohl der schlimmste meines Lebens. Noch heute habe ich schreckliche Albträume und wache nachts schweißgebadet auf. Ich leide an Paranoia und bin im Allgemeinen sehr ängstlich. Das Trauma sitzt tief.
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Noch immer stand ich an der Tür. Mir war schwindelig. Ich fasste mir an den Hinterkopf und spürte das frische Blut der Wunde.
Plötzlich kam Cherie durch eine andere Tür ins Zimmer, die ich bis dahin noch nicht gesehen hatte. Sie war nur mit einem knappen Höschen bekleidet.
„Shane, du siehst nicht gut aus. Wie wäre es, wenn wir uns etwas hinlegen?“
Ich konnte nicht mehr. Ich war am Boden zerstört und hätte am liebsten geweint. Doch dazu kam ich gar nicht. Das, was kam, verschlug mir den Atem.
Cherie zog mich aufs Bett. Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihre rechte Brust.
„Ich will Sex mit dir.“
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Ich wusste in dem Moment nicht, was ich sagen sollte. Aber ich tat, was sie sagte. Nicht, weil ich es wollte. Nein. Weil ich Angst hatte. Angst vor ihr. Angst vor Bonny.
Ich dachte nur an Carmen. Ob sie zu dem Zeitpunkt im Restaurant wohl schon auf mich gewartet hat?
Ich verschaffte Cherie einen Orgasmus, den sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen sollte. Ich verausgabte mich, obwohl es mir schlecht ging. Die Wunde an meinem Kopf blutete immer noch, aber das war mir egal. Ich ließ meinen ganzen Ärger an Cherie aus. Und es schien ihr zu gefallen.
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Nachdem ich Cherie gegeben hatte, was sie wollte, lag ich in einiger Distanz von ihr auf dem Bett und starrte an die Decke.
„Shane.“
Ich drehte den Kopf zu ihr und hatte Tränen in den Augen. Ich konnte nur an Carmen denken.
„Ich habe eine Überraschung für dich“, sagte sie zynisch. „Schließlich sollst du auch nicht leer ausgehen.“
Fragend sah ich sie an. Sie rief Bonny, den sie vorher aus dem Zimmer geschickt hatte, wieder herein und blickte mich dann schadenfroh an.
„Bonny wird dir etwas Freude bereiten.“
Kapitel 13
In dem Moment, in dem Cherie das sagte, wusste ich, was kommen würde. Und ich hatte Angst. Ich kann mich daran erinnern, dass ich weinte. In diesem Moment wusste ich einfach nicht mehr weiter.
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„Freust du dich denn nicht, Shane? Das wird dir Spaß machen.“
Ich sagte nichts. War unfähig zu sprechen.
Cherie machte es sich auf dem Sofa in der Ecke bequem.
Noch immer lag ich auf dem Bett, den Kopf zur Seite gedreht und die Augen geschlossen.
Ganz plötzlich spürte ich einen Stich. Ich schreckte auf, doch es war schon zu spät. Ich sah die leere Spritze, die Bonny in der Hand hielt.
„Was-“. Weiter kam ich nicht.
Bonny lachte. „Lysthenon. Ruft eine Muskellähmung herbei. Die Wirkung tritt innerhalb kurzer Zeit ein. Das Problem ist, dass sie nicht lange anhält, aber ich habe für Nachschub gesorgt.“
Wieder lachte er. Und Cherie tat es ihm nach.
Cherie kam zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr, „Wenn deine kleinen Freundinnen oder irgendjemand anderes erfahren, dass ich dahinterstecke, dann sind sie tot, hast du mich verstanden?“ Dann setzte sie sich wieder auf die Couch und sah zu.
Ich lag da und konnte mich nicht bewegen. Ich war verloren und hilflos. Ich musste zusehen, wie Bonny sich vor mir auszog und konnte nichts dagegen tun. Jeder einzelne Muskel meines Körpers war gelähmt.
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Ich sitze da und weine. Wie damals.
Manchmal wünsche ich mir, ich könnte die Erinnerungen auslöschen, sie wegradieren, und gleichzeitig weiß ich, dass dies nicht möglich ist. Sie sind ein Teil von mir. Und ich muss mit ihnen leben.
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Ich musste zusehen, wie er es tat und ich war unfähig, irgendetwas zu tun. Es war wie ein Alptraum, aus dem ich so schnell wie möglich erwachen wollte, doch ich musste erkennen, dass ich es mit der Realität zu tun hatte. Die Realität, die ich nicht verdrängen, nicht abschalten konnte.
Ich war gefangen in meinem eigenen Körper. Der Körper, der einer unverzeihlichen Tat ausgesetzt wurde. In diesen Minuten wurde eine Erinnerung geschaffen, von der ich wusste, dass sie mein ganzes Leben lang immer da sein und mich quälen würde. Unaufhörlich. Unauslöschlich.
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Alles habe ich mit ansehen müssen. Alles. Und die Bilder sind in meiner Vorstellung noch heute so präsent wie damals.
Alles ist in meinem Kopf noch da.
Wie er mir die Kleider vom Leib riss.
Wie er mich auch auf den Mund küsste.
Wie er in mich eindrang.
Wie er mich vergewaltigte.
Kapitel 14
Ich weiß nicht, was danach geschah. Ich habe noch mitbekommen, wie Bonny mir irgendetwas eingeflößt hat und dann wurde alles um mich herum schwarz.
Erst einige Stunden später bin ich wieder aufgewacht.
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Langsam öffnete ich die Augen. Wo war ich?
„Shane.“
Nein. Wer war das? Cherie? In mir machte sich Angst und Panik breit.
Jemand fasste mir an die Schulter. Ich versuchte mich loszureißen. Mein ganzer Körper schmerzte.
„Hey Shane, ich bin es, Alice.“
Alice? Ich schaute zur Seite und sah sie. Tatsächlich.
Ich fing an zu weinen. „Alice. Ist es vorbei?“
Sie lächelte und beruhigte mich. „Ja, Shane, es ist vorbei.“
„Wo bin ich?“
„Im Krankenhaus. Du bist in Sicherheit.“
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Ich weiß nicht, wie die Ärzte meine Identität herausgefunden hatten, schließlich hatte ich nichts mehr bei mir, nicht einmal Klamotten. Ich war nackt. Aber irgendwie haben sie Alice kontaktiert, und sie war da, als ich aufwachte.
Mein ganzer Körper war übersät mit Blutergüssen. Ich hatte gebrochene Rippen und eine Gehirnerschütterung. Nichts Schlimmes. Der seelische Schmerz war es, der mir zu schaffen machte. Ich konnte nicht über das, was geschah, reden.
Noch immer habe ich diesen seelischen Schmerz nicht überwunden. Die Erinnerung sitzt noch immer tief.
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„Mama, Mama.“
„Was ist, mein Schatz?“
„Emma ist beim Spielen hingefallen“, sagt Alessia, die hinter Emma zur Tür hereinkommt.
„Oh, zeig mal her.“
Emma zieht ihre Hose hoch und zeigt mir die kleine Schramme am Knie. Weinerlich sieht sie mich an.
„Das ist nicht so schlimm, du bist doch schon ein großes Mädchen.“
Ich desinfiziere die Wunde und klebe ein Kinderpflaster mit Mickey Mouse-Motiv darauf. Dann nehme ich Emma in den Arm.
„Denk nicht mehr daran, das geht bald wieder vorbei.“
„Kann ich jetzt wieder spielen gehen, Mama?“
Ich lächle sie an. „Klar kannst du das. Viel Spaß euch beiden.“
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„Miss McCutcheon, wie geht es Ihnen?“
„Besser. Wann darf ich denn nach Hause?“
„Schon sehr bald. Aber es gibt da noch etwas, über das wir sprechen sollten“, sagte der Arzt und setze sich zu mir ans Bett. Er sah sehr ernst aus.
„Ist irgendwas mit mir?“ Ich kriegte es mit der Angst zu tun. Ich dachte, dass ich irgendeine schlimme Krankheit hätte. Vielleicht AIDS, oder etwas anderes.
„Wie man es nimmt… wir haben die obligatorischen Tests durchgeführt und mussten feststellen, dass sie schwanger sind.“
Kapitel 15
Ich war geschockt, als ich erfuhr, dass ich schwanger war. Ich und schwanger-das passte einfach nicht zusammen. Und dann war da immer der Gedanke daran, wie das Kind gezeugt worden war. Ich wusste zu dem Zeitpunkt einfach nicht, ob ich das verantworten konnte.
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„Nein. Nein, das kann nicht sein. Bestimmt haben Sie die Testergebnisse verwechselt.“
Er sieht mich an und lächelt schwach. „Das ist ausgeschlossen.“
Ich war verzweifelt und weinte. Das war zu viel für mich.
„Miss McCutcheon, ich kann Ihnen die Entscheidung leider nicht abnehmen… aber Sie müssen sich überlegen, ob Sie das Kind behalten wollen.“
Ich starrte in die Leere.
„Ich lasse Ihnen nun Ihre Ruhe, aber bitte denken Sie darüber nach.“
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Ich habe darüber nachgedacht. Lange. Doch irgendwann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ganz plötzlich gab es für mich nur noch eine Antwort: ich wollte dieses Kind. Ich wollte ihm ein Leben schenken, das besser ist als das meine. Ganz langsam entwickelte ich Muttergefühle. Etwas, das ich mir vorher nie hätte träumen lassen.
Doch da war etwas anderes, was mir zu schaffen machte. Cheries Drohung…
„Wenn deine kleinen Freundinnen oder irgendjemand anderes erfahren, dass ich dahinterstecke, dann sind sie tot, hast du mich verstanden?“
Ich wusste, dass sie es ernst meinte. Doch was sollte ich tun? Ich wusste damals nur eine einzige Lösung…
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„Alice, ich werde weggehen.“
Geschockt sah sie mich an. „Was? Wie, weggehen?“
„Weg von hier, von Los Angeles.“
„Aber warum denn? Wo willst du denn hin?“
„Ich weiß es nicht“, sagte ich und fing an zu weinen.
„Shane, was ist denn los?“
Sie nahm mich in den Arm und ich schluchzte. Lange blieben wir so, bis ich endlich in der Lage war, auf ihre Frage zu antworten.
„Alice, ich kann dir nicht sagen, warum ich gehen will aber du musst mir glauben, dass es besser so ist.“
„Besser für wen?“, fragte sie ruhig.
„Besser für alle. Für euch, für mich und….“
„Und?“
„Für mein Kind.“
Alice starrte mich zuerst ungläubig an, doch dann verstand sie. Sie zählte eins und eins zusammen und kam auf die Antwort.
Sie stellte keine Fragen mehr. Nicht über die Vergewaltigung oder wer es war. Nicht über das Kind. Nicht wo ich hin wollte.
Ich war sehr froh darüber.
Kapitel 16
Es ging alles sehr schnell. Sobald ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, packte ich meine Sachen für die Reise in ein neues Leben.
Ich verabschiedete mich nicht von meinen Freunden und ließ sie in dem Glauben, ich sei von der Bildfläche verschwunden. Nur Alice wusste von meinem Geheimnis, dass ich ein Kind erwartete, und sie versuchte mich zu unterstützen. Ich spürte, dass sie innerlich mit sich haderte. Sie wollte mich zum Bleiben überreden, doch wahrscheinlich wusste sie, dass sie keinen Erfolg gehabt hätte.
Es tut mir, damals wie heute, Leid, wie ich mit meinen Freunden umgegangen bin. Einfach so zu verschwinden… das war ein Vertrauensbruch. Doch ich konnte nicht anders, ich musste es tun. Ich wollte weder sie noch das Kind in Gefahr bringen. Ich musste um jeden Preis verhindern, dass Cherie oder Bonnie ihnen zu nahe kamen.
Alice musste mir versprechen, dass sie niemandem, aber auch wirklich niemandem davon erzählt. Sie sollte so geschockt und verletzt wirken wie es wahrscheinlich alle anderen taten und sollte sich nichts anmerken lassen.
Wenige Tage später verließ ich Los Angeles.
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Acht Jahre. Acht Jahre bin ich nun hier in Kanada, genauer gesagt, in Toronto. Ich habe hart gearbeitet, um mir ein neues Leben aufzubauen, ein Leben mit meiner Tochter, und ich habe es schließlich geschafft.
Natürlich denke ich immer noch jeden einzelnen Tag an die Ereignisse, die ich vor acht Jahren durchleben musste, doch dann sehe ich meine kleine Tochter und freue mich über ihr Lachen, über ihre Fröhlichkeit. Emma hat mein verkorkstes Leben wieder lebenswert gemacht.
Ich denke auch oft an meine Freunde und frage mich, wie es ihnen geht und was sie tun. Manchmal ziehe ich in Erwägung, hinunter nach Los Angeles zu fliegen und sie einfach zu besuchen. Doch dann muss ich einsehen, dass es unmöglich wäre. Was würden sie denn sagen, nach acht Jahren… sie würden mir Vorwürfe machen und mich vielleicht verachten.
Und an noch jemanden denke ich jeden Tag: Carmen.
Ich konnte sie nie vergessen, sie ist immer da. Ich habe sie geliebt, obwohl ich nur ein paar Stunden mit ihr verbracht habe. Doch etwas an ihr hat mich in ihren Bann gezogen. Nach ihr habe ich meine Tochter benannt: Emma Carmen McCutcheon.
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Noch als ich in Los Angeles im Krankenhaus lag, rief ich eine alte Freundin in Toronto an. Sandra Wilson. Ich fragte sie, ob ich zu ihr kommen könne. Sofort sagte sie zu und einige Tage später stand ich vor ihrer Tür. Sie nahm mich liebevoll bei sich auf und ich blieb ein paar Monate bei ihr, bis ich meine eigene Bleibe fand. Ich hatte Glück. Ein kleines Häuschen in der Nachbarschaft wurde frei. Ich nahm einen Kredit auf, kaufte es und zog sofort ein.
Sandra und ich kennen uns aus der Frisörschule. Wir waren beste Freundinnen, bis sie in den Ferien ihren jetzigen Mann kennenlernte und mit ihm nach Toronto zog. Wir verloren uns aus den Augen, doch ihre Nummer habe ich immer aufbewahrt.
Ich vertraute ihr und Jeff, ihrem Mann, und erzählte ihnen alles. Ihr Trost hat mich wieder auf die Beine gebracht.
Als ich zu Sandra und Jeff kam, hatten die beiden eine zweijährige Tochter, Alessia. Sie hat mir jeden Tag mehr gezeigt, wie schön es ist, ein Kind zu haben, es groß zu ziehen, und zu sehen, wie es sich entwickelt.
Mehr und mehr freute ich mich auf die Ankunft meines eigenen Kindes auf dieser Welt.
Kapitel 17
Nachdem ich in Toronto angekommen war, wähnte ich mich und meine ungeborene Tochter zwar zunächst in Sicherheit, doch da gab es noch ein Problem… wer überleben will, muss auch arbeiten. Ich hatte zwar etwas Geld gespart, doch das reichte nicht.
Also machte ich mich auf Jobsuche.
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Ich betrat den hippen Friseursalon und ging auf einen kleinen Tresen in der Ecke zu, wo ich wartete, dass irgendjemand kommt. Ich schaute mich um und fühlte mich sofort wohl. Genau so etwas hatte ich mir vorgestellt.
Ein Mann kam lächelnd auf mich zu, vermutlich der Geschäftsführer. Er streckte mir die Hand entgegen und ich nahm sie.
„Guten Tag, mein Name ist Sam. Ich leite diesen Laden hier.“
„Hey… Sam. Ich bin Shane McCutcheon. Ich bin hier wegen der Stelle als Friseuse.“
Er mustert mich. „Du würdest gut zu uns passen. Darf ich deine Zeugnisse sehen?“
Ich gab ihm die Mappe, die ich bisher verdeckend vor meinem kleinen Babybauch gehalten hatte. Er sollte sich erst ein möglichst positives Bild von mir machen, bevor ich ihm meine Schwangerschaft beichtete.
Nach einer Weile sah er lächelnd zu mir auf.
„Nun, Shane… du gefällst mir, deine Qualifikationen gefallen mir… ich glaube, es gibt keinen Grund, dich nicht zu nehmen.“
Erleichtert atmete ich auf.
„Sind wir im Geschäft?“ Er streckte mir die Hand entgegen.
Ich zögerte.
„Was ist los?“, fragte Sam.
„Na ja… vielleicht gäbe es da doch einen Grund, mich nicht zu nehmen… .“
Fragend sah er mich an. „Der wäre?“
„Ich bin schwanger.“
Das hatte er wohl nicht erwartet.
„Also, unter den Umständen kann ich dich natürlich nicht einstellen.“
Ich sah zu Boden. „Aber warum denn nicht? Ich meine, ich bin erst im zweiten Monat. Und wenn das Kind da ist, falle ich höchstens acht Wochen aus.“
Ich gab ihm den Hundeblick. „Bitte.“
Sam überlegte. Er wollte mich haben, das wusste ich. Und ich nutzte es aus.
„Na gut.“
Wieder streckte er mir die Hand entgegen und diesmal nahm ich sie.
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So bin ich also zu einem Job gekommen. Es war mein drittes Vorstellungsgespräch hier in Toronto und ich war wirklich froh, endlich Geld verdienen zu können. Endlich wieder auf eigenen Beinen zu stehen und den Grundstein für mein neues Leben legen zu können.
Kapitel 18
In meinem neuen Job lief es sehr gut und mit Sam und den anderen verstand ich mich von Anfang an super. Ich arbeitete hart, um vor der Geburt noch ein wenig Geld zu verdienen. Aber ich hatte Glück. Die Arbeit im Salon wurde sehr gut bezahlt.
Ich war so froh, dass ich Sandra und Jeff hatte. Ihre Unterstützung bedeutete mir sehr viel. Mit ihnen konnte ich immer über alles reden, ihnen konnte ich vertrauen. Sie waren es, die mich wieder aufgebaut haben, wenn ich einen schlechten Tag hatte. Einen Tag, an dem alle Erinnerungen wieder kamen und mir keine Ruhe ließen.
Oft weckten sie meine Schreie in der Nacht, wenn ich einen Alptraum hatte, der alle Einzelheiten der Geschehnisse wieder hat aufleben lassen, und mindestens einer der beiden kam, um mich zu trösten. Mich in den Arm zu nehmen und mir zu sagen, dass von nun an alles gut werde.
Diese Alpträume habe ich jetzt immer noch. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich habe mich daran gewöhnt, auch wenn sie mich ständig an alles erinnern. Aber diese Erinnerungen sind ein Teil von mir und es gibt nichts, das sie aus meinem Kopf radieren könnte.
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Während der Schwangerschaft freute ich mich jeden Tag mehr auf mein Kind. Manchmal konnte ich es sogar kaum mehr erwarten, es endlich in den Armen zu halten. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal solche Gefühle haben würde.
Ich fühlte mich weiblicher als noch zu der Zeit, als ich jede Frau ins Bett gezogen habe. Ich hatte längere Haare und trug nun Umstandsmode.
Sandra und ich gingen eines Tages in ein Geschäft, das auf Baby- und Kinder-Kleidung spezialisiert war, um für das Baby Anziehsachen zu kaufen. Über Ultraschall habe ich an diesem Tag von der Frauenärztin erfahren, dass es ein Mädchen werden wird.
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Wir kamen in das Geschäft und gingen in die Baby-Abteilung. Ich sah mich um. Überall werdende Mütter oder solche, die es schon waren mit Kinderwägen zwischen vielen kleinen bunten Klamotten.
Ich war fasziniert, was es für Babys alles gab. Sogar Jeans und Blusen gab es schon in den kleinsten Größen.
„Na, was sagst du?“, fragte mich Sandra. „Deine Augen leuchten ja förmlich.“
„Es ist toll. Am liebsten würde ich den ganzen Laden aufkaufen.“
Sandra lachte und sah mich dann an. „Du hast dich wirklich sehr verändert, Shane.“
Hatte ich das? Als ich so darüber nachdachte, wurde mir klar, dass sie Recht hatte. Vor nicht allzu langer Zeit war ich das It-Girl von Los Angeles, das vor keiner Frau Halt gemacht hat und den jeden Tag auf irgendwelchen Partys rumgehangen war. Ich war das Zentrum auf Alices Chart. Und nun… nun bekam ich ein Baby.
Ich habe mich verändert. Nicht nur äußerlich. Nein. Mein ganzes Wesen hat sich verändert. Meine Ansichten. Mein Leben.
Kapitel 19
Ich sah mich im Spiegel an, von vorne und von der Seite, und ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Mein Bauch wurde immer runder und ich musste nun Klamotten tragen, von denen mir nur ein paar Monate zuvor nicht mal im Traum eingefallen wäre, dass sie mir gefallen könnten - Umstandsmode eben. Aber als ich mich so ansah, musste ich feststellen, dass ich mir tatsächlich gefiel. Meine Haare waren um einiges länger und meine Brüste waren eindeutig größer geworden. Dort, wo früher nur eine geringe Erhebung auszumachen war, befanden sich nun zwei richtige Brüste.
Ja, ich gefiel mir.
„Warte es nur ab, sie werden noch größer, wenn sie erst mal mit Muttermilch gefüllt sind. Dann wirst du manchmal das Gefühl haben, sie explodieren“, lachte Sandra, die im Türrahmen stand und mich dabei ertappt hatte, wie ich mit beiden Händen auf der Brust vor dem Spiegel stand.
Ich musste mitlachen.
„Die Hintertür stand offen. Ich hoffe, ich hab dich nicht erschreckt.“
„Nein, nein“, versicherte ich ihr. „Ach Sandy, ich freue mich so.“
Sandra kam zu mir und umarmte mich. „Wir freuen uns auch für dich.“
Wir sahen uns eine Weile lächelnd an.
„Ist Jeff zu Hause?“
„Noch nicht, aber er müsste gleich von der Arbeit kommen. Warum fragst du?“
„Kann ich kurz mit rüber kommen? Ich möchte mit euch reden.“
„Klar, kein Problem. Wir haben Zeit. Alessia ist bei meiner Mutter.“
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„Emma, Alessia“, rufe ich in den Garten hinaus. „Möchtet ihr was trinken?“
„Ja!“, höre ich die beiden zurückrufen und wenig später kommen sie schon auf mich zugerannt.
„Ich hab Eistee. Früchte oder Pfirsich?“
„Früchte.“
„Pfirsich.“
Ich lächle. Warum habe ich eigentlich gefragt? Emma mag wie immer Früchte-Eistee und Alessia ist verrückt nach Pfirsich.
Nachdem sie mit einem Zug ihr Glas leer getrunken haben, stürmen sie wieder davon.
„Shane, hi.“
Ich drehe mich um.
„Oh hey, Sandy. Möchtest du auch ein Glas?“, frage ich und halte ihr die zwei großen Glaskannen hin.
„Gern. Pfirsich, bitte.“
Wie die Mutter, so die Tochter.
„Jeff und ich geben heute Abend ein Barbecue. Ich hoffe, du und Emma habt noch nichts vor, denn wir würden uns sehr freuen, wenn ihr kommt.“
„Klar, gern. Wir haben nichts geplant.“
„Gut, dann sehen wir uns später. So um sieben.“
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„Jeff, Sandra, ich will euch etwas fragen“, sagte ich, als wir zusammen auf der Couch saßen.
Die beiden sahen mich erwartungsvoll an.
„Ihr habt mich bei euch aufgenommen und mich in den letzten Monaten bei allem unterstützt. Dafür bin ich euch sehr dankbar, wirklich. Ich weiß nicht, wie ich mich jeweils dafür revanchieren kann.“
„Shane, das musst du nicht. Wir haben das gern gemacht. Du bist unsere Freundin und du kannst immer zu uns kommen.“
Ich lächelte.
„Ich möchte euch gerne um etwas bitten.“
Wieder blickten mich vier erwartungsvolle Augen an.
„Ich würde mich freuen, wenn ihr die Patenschaft von meiner Tochter übernehmen würdet.“
Kapitel 20
Ich sitze auf meinem Balkon und genieße die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Es wird heiß heute. Ich trinke einen Schluck von meinem Orangensaft und nehme dann die Zeitung zur Hand. Ich blättere durch und lese hier und da einen Artikel, der mich interessiert.
„Morgen, Shane.“
Ich sehe Sandra um die Ecke kommen und lege die Zeitung auf meine Beine.
„Hey, Sandy. Setz dich zu mir. Kann ich dir ein Croissant oder einen Kaffee anbieten?“
„Danke, ich habe gerade gefrühstückt. Schläft Emma noch?“
Ich nicke. „Ja. Sie war hundemüde gestern Abend. Danke nochmal für die Einladung, wir haben uns prächtig amüsiert.“
„Das freut mich. Wir wollten schon so lange mal wieder ein Barbecue veranstalten, und gestern Abend hat es endlich geklappt.“
Ich höre ihr nicht mehr zu. Mein Blick ist auf eine Schlagzeile in der Zeitung gerichtet, die ich soeben entdeckt habe.
„Shane? Ist alles okay?“
Ich starre immer noch auf die Seite.
„Shane, was ist denn los?“
Sandra steht auf und kommt auf meine Seite des Tisches, um zu sehen, was mich gerade so mitnimmt.
„Oh mein Gott.“
Jetzt starrt Sandra genauso auf die Überschrift wie ich. Dort, auf Seite 17 ganz oben, steht es groß und fett:
>>Cherie Jaffe des Mordes angeklagt<<
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Ich saß mit Sandra und Jeff in meinem Wohnzimmer.
„Aber Shane, warum willst du das Biest nicht einfach anzeigen? Du könntest sie und diesen Auftragskiller in Nullkommanichts ins Gefängnis bringen“, redet Jeff auf mich ein.
Nur vom Reden über das Thema bin ich völlig fertig und mir stehen die Tränen in den Augen.
„Versteht ihr das nicht? Ich möchte abschließen mit dieser ganzen Sache.“
„Und wie soll das aussehen? Wie willst du einen Abschluss herbeiführen, wenn die beiden auf freiem Fuß sind und du in ständiger Angst lebst? Du trägst die Erinnerung an diesen Tag in dir, hast du das vergessen? Du wirst eine Tochter gebären, die dich jeden einzelnen Tag an die Geschehnisse erinnern wird.“
„Jeff!“, ermahnt ihn Sandra.
Ich kann mich nicht mehr unter Kontrolle halten.
„Hör auf, so über meine Tochter zu reden. Sie kann nichts dafür. Ich-“.
Plötzlich spüre ich etwas in meinem Bauch. Einen Tritt.
„Shane, was ist los? Ist etwas nicht in Ordnung?“ Die beiden stürmen zu beiden Seiten um den Tisch auf mich zu, nachdem ich mir an den Bauch gefasst habe.
„Nein, es ist nur. Sie… sie hat mich getreten. Sie hat mich zum ersten Mal getreten“
Ich strahle und habe die Auseinandersetzung von gerade eben schon fast vergessen.
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Wieder und wieder lese ich die Überschrift: >>Cherie Jaffe des Mordes angeklagt<<
Erst nach einigen Minuten kann ich mich dazu überwinden, den Artikel zu lesen.
>>Los Angeles. Cherie Jaffe, die ehemalige Frau des erfolgreichen Managers Steve Jaffe, der vor fast neun Jahren ermordet aufgefunden worden war, wurde am Abend in ihrem Haus in Beverly Hills verhaftet. Sie wurde angeklagt, einen Auftragskiller engagiert zu haben, um ihren Mann zu töten.
Auf einen anonymen Tipp hin hat die Polizei das Haus durchsucht und dort den entscheidenden Hinweis gefunden, eine Rechnung des Mörders über etwa 200.000 US$. Bei der anschließenden Vernehmung auf der Polizeiwache gestand Jaffe die Tat, die neun Jahre zuvor nicht aufgeklärt werden konnte. Sie und der Killer, Bonny Cale, wurden sofort inhaftiert und warten nun auf ihren Prozess.<<
Ich blicke von der Zeitung auf und starre vor mich hin. Dann sehe ich zu Sandra auf, die ihre Hand auf meine Schulter gelegt hat.
„Ich bin frei“, sage ich langsam und bin unfähig, meine Gefühle zu ordnen.
To be continued