Als ich mich um 13:50 Uhr an der Ecke von Mareikes Straße einfand, parkte dort schon Carolines Wagen.
„Und ich dachte, ich wäre zu früh“, neckte ich sie, als ich ins Auto stieg.
„Ach, ich war schon in der Nähe“, behauptete sie, aber erwartete nicht, dass ich es ihr glaubte.
Ich musste mich sehr anstrengen, sie nicht zu küssen, als ich mich neben sie setzte, und beeilte mich, den Sicherheitsgurt anzulegen. Als sie aber ihre Hand auf die Kupplung legte, um den Rückwärtsgang einzuschalten, konnte ich nicht anders, und ich legte meine Hand auf ihre. „Schön, dich zu sehen“, sagte ich leise.
„Lass das!“, zischte sie, und ich nahm erschrocken meine Hand fort. Was hatte sie denn? Das konnte doch nun wirklich niemand sehen.
Erst als ich Caroline anschaute, erkannte ich meinen Fehler. Weder sie noch ich würden es bis zu ihr nach Hause schaffen, wenn ich mich nicht benahm. „Sorry“, sagte ich reumütig. „Kommt nicht wieder vor.“
„Das will ich hoffen“, sagte sie streng, aber ich sah an ihren Mundwinkeln, dass sie lächelte.
Uns blieben drei Stunden Zeit, da ich um 17 Uhr mit Mareike am Gendarmenmarkt verabredet war. Sicher wäre es sinnvoll gewesen, die uns zur Verfügung stehenden Stunden zu nutzen, um ein ausführliches Gespräch über die Zukunft zu führen. Aber es
ging irgendwie nicht. Die Autofahrt war schwierig genug durchzustehen, und als wir bei Caroline ankamen, war es vorbei mit dem Zusammennehmen.
Noch jetzt, wo ich dies aufschreibe, muss ich den Kopf über mich schütteln. Wie kann man so dermaßen glücklich sein, nur weil man mit einem Menschen zusammen ist? Einen Sinn ergibt das nicht, aber es ist toll.
Später dann, als wir es geschafft hatten, das Schlafzimmer zu verlassen, haben wir uns unten im Wohnzimmer vor ihren Kamin gesetzt. Caroline breitete ein Schafsfell auf dem Boden aus, so dass wir dort gemeinsam sitzen und uns vom Feuer wärmen lassen konnten. Während sie sich um das Entfachen der Glut kümmerte, setzte ich mich schon auf das Fell und schenkte uns zwei Gläser Saft ein.
Ein paar Minuten später setze sie sich zu mir und legte von hinten die Arme um mich. Sie küsste mich sanft und zog mich näher zu sich, so dass ich ihre Brüste in meinem Rücken spüren konnte. Lange sagten wir nichts. Ich lag zurückgelehnt in ihren Armen und genoss die wohlige Stille zwischen uns, unterbrochen vom Knistern des Feuers. Ich fühlte einen solchen Frieden in mir, eine solche Geborgenheit, dass ich nie wieder aufstehen wollte. „Es ist grausam, dass ich am Montag zurückfahren muss“, murmelte ich.
Sie küsste meinen Nacken. „Weißt du schon, ob du wiederkommst?“
„Zweifelst du daran?“
„Naja, wenn du erstmal wieder zu Hause bist bei deinem Freund…“
„Caroline…“ Ich legte ihre Arme um mich herum wie eine Decke und küsste ihre Handrücken. „Das mit dir… so etwas habe ich noch nie erlebt. Mit niemandem…“
„Ich auch nicht“, flüsterte sie in mein Ohr.
Ihre Worte machten mich so glücklich, dass ich kurz den Faden verlor. Ich küsste jeden einzelnen ihrer Finger, bevor ich bereit war fortzufahren. „Ich frage mich nur, wie wir unsere beiden Leben zusammenbringen sollen. Ich muss ja an den Wochenenden arbeiten und kann mir nicht dauernd frei nehmen. Und du bist an die Spielpläne gebunden.“ Ich runzelte die Stirn. „Das kann eigentlich nur funktionieren, wenn ich eine neue Kraft einstelle und selbst weniger im Restaurant arbeite…“
„Das wäre ein ziemlicher Verdienstverlust für dich, nicht wahr?“
„Ein verkraftbarer Verlust.“ Ich wandte mich um und küsste ihre Lippen. „Sehr viel verkraftbarer als dich nicht mehr zu sehen.“
Sie lächelte. „Würdest du denn damit klarkommen, dass wir für alle Menschen nur normale Freundinnen sein können? Wir könnten niemals zusammen wohnen, und wir müssten immer aufpassen, dass wir nicht zu viel zusammen gesehen werden. Bist du sicher, dass du dazu bereit bist?“
„Nur bedingt.“
„Was heißt das?“ Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. „Du weißt, dass das meine Bedingung ist.“
„Ja, das weiß ich“, seufzte ich. „Und ich bin wirklich bereit, sehr viel aufzugeben… für dich… Aber ich habe gemerkt, dass ich die Menschen, denen ich wirklich vertraue, nicht anlügen will…“
„Ausgeschlossen.“ Sie stand auf und trat zum Kamin, um einen umgefallenen Holzscheit aufzurichten. „Wenn es erstmal ein Mensch weiß, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es alle wissen. Dir ist doch wohl hoffentlich klar, dass ich mich nicht um irgendetwas drücken will, sondern dass hier mein Beruf auf dem Spiel steht.“
„Ja, natürlich.“ Ich senkte den Kopf. „Ich kann dich verstehen. Aber vielleicht kannst du verstehen, dass ich kein Lügengebäude vor meinen engsten Freunden aufbauen kann.“
„Wieso nicht? Ich tue das schon mein Leben lang… “ Sie setzte sich wieder zu mir. „Man kann sich daran gewöhnen, glaub mir.“
„Ich will mich aber nicht daran gewöhnen.“
„Dann geht es nicht.“
Warum sagte sie sowas? Ich war den Tränen nah. Wieso drehte sich alles darum, was sie wollte? Sah sie überhaupt nicht, was ich bereit war, für sie aufzugeben? Ich würde vielleicht Lennart verlassen. Ich würde meine Wochenenden in stickigen ICE-Zügen verbringen, um sie zu sehen. Ich würde im Restaurant kürzer treten und Verdienstverluste hinnehmen. Und ich wäre sogar bereit, eine Beziehung im Verborgenen zu führen. Wieso konnte sie nicht verstehen, dass auch ich eine Grenze hatte? „Ist das dein letztes Wort?“
„Ja.“
Ich löste mich aus ihrer Umarmung und stand vom Boden auf.
„Was soll denn das, Fanny? Bitte bleib hier.“
„Ich denke, es ist alles gesagt.“
„Nun sei doch nicht gleich gekränkt…“
„Du hast deinen Standpunkt klargemacht, und ich habe dir meinen gesagt. Solange wir keinen Kompromiss finden, kann es nicht funktionieren.“ Ich zog mein Handy hervor, um ein Taxi zu rufen.
„Lass das doch, ich fahre dich.“ Sie erhob sich jetzt ebenfalls. „Ich hole dir noch deine Tasche von oben.“
Schweigend stiegen wir in ihr Auto, und sie fuhr mich zu dem Treffpunkt, den ich mich Mareike vereinbart hatte. Mir war so zum Heulen zumute, dass ich nicht wusste, wie ich Mareike gegenübertreten sollte. Auch Caroline litt, das sah ich ihr an, aber es wäre verkehrt, ihretwegen etwas zu tun, von dem ich jetzt schon wusste, dass es mich unglücklich machen würde.
Im Nachhinein erwies es sich als Vorteil, dass Caroline mich zwanzig Minuten zu früh am Gendarmenmarkt absetzte, denn dadurch hatte ich Zeit, mich wieder etwas einzukriegen, bis Mareike erschien.
Der Weihnachtsmarkt war, wie Mareike schon angekündigt hatte, wirklich sehr besonders, und ich wünschte, ich hätte den Nachmittag mehr genießen können. Mir war die Laune gründlich verdorben, und die folgenden zwei Tage verliefen keineswegs besser. Es kostete mich große Mühe, mir vor Mareike nichts anmerken zu lassen, aber ich glaube, sie hat sehr wohl begriffen, dass ich total neben der Spur war. Caroline hat sich übrigens nicht mehr bei mir gemeldet, und ich habe ihr auch keine Nachricht mehr hinterlassen.
Und jetzt sitze ich hier im Zug und fahre zurück nach Hause. Zu dem Mann, den ich zu verlassen bereit bin. Wie skurril ist das?
Seit ich mit Caroline geschlafen habe, kann ich mir überhaupt nicht mehr vorstellen, mit Lennart zusammen zu sein. Wie soll ich ihm nahe sein, ohne an sie zu denken? Selbst wenn Caroline und ich uns nicht mehr sehen, wird es zwischen Lennart und mir nie wieder so sein wie vorher. Sie wird immer zwischen uns stehen. Ist es nicht von vornherein eine Sackgasse, wenn ich mit ihm zusammenbleibe, ganz egal, was mit Caroline und mir werden wird?
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich machen soll, wenn Caroline und ich uns nicht wiedersehen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, ohne sie zu leben. Eigentlich habe ich das schon vor meiner Reise nach Berlin nicht gekonnt, und jetzt kann ich es noch viel weniger.
Seltsam, wie nah Glück und Unglück beieinander liegen können. Vor vier Tagen fühlte ich mich wie der glücklichste Mensch dieser Erde, und jetzt wird mir klar, dass ich nicht nur Caroline sondern auch Lennart verloren habe. Vielleicht ist es Zeit, dass ich mich damit abfinde, allein zu sein.
Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, hat Rainer Maria Rilke einst gesagt, und langsam glaube ich, dass er Recht hatte.
To be continued....